Reitkunst vs. Handwerk

Rund um die klassische Reitkunst

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Junito
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Beitrag von Junito »

@ Alix: Ohne Talent ist auch das Handwerk unerreichbar. Zunächst mag einem der Meister sagen, wann etwas stimmt. Aber sollte man nicht irgendwann selber ein Gespür entwickeln?

Ich denke, ohne Talent kann man keine Liebe zum Handwerk entwickeln, man macht es nicht gerne.

Wenn man das Handwerk blind beherrscht, kann man entweder zur Kunst übergehen. Oder das Handwerk perfekt ausführen - was auch schon viel ist.
Pferde sind wie guter Sekt - es braucht Zeit und Erfahrung, damit sie perlen können.
horsman
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Beitrag von horsman »

Aber man kann (und muss) doch auch sein Handwerk entwickeln mit dem Ziel / auf dem Weg, sich der Reitkunst zu widmen. Dazu muss man doch nicht schon perfekt sein, bevor man damit anfängt. Wie soll man denn den Weg zur handwerklichen Perfektion sonst beschreiten, wenn nicht durch lernen, üben und entwickeln? Üben ist ja keine Schande, letztlich tut man es täglich immer wieder aufs neue. Insofern ist es Unsinn Handwerk vs. Reitkunst zu stellen. Wenn man etwas in Opposition stellen will, das mE vielleicht Reitkunst vs. Reitsport.
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Alix_ludivine
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Beitrag von Alix_ludivine »

Junito hat geschrieben:@ Alix: Ohne Talent ist auch das Handwerk unerreichbar. Zunächst mag einem der Meister sagen, wann etwas stimmt. Aber sollte man nicht irgendwann selber ein Gespür entwickeln?
Das nennt man dann Erfahrung.

Der Vorteil, wenn man Talent hat und "nur" noch das Handwerk dazu lernen muss - es geht meist einfacher, weil man einfach das Gespür dafür hat. Sei es beim Reiten, Singen oder Tanzen.
Z.B. beim Tanzen. Es gibt genug Menschen, die lernen tanzen, sind aber eigentlich talentfrei. Sie tanzen dann zwar technisch im Takt, aber es sieht einfach hölzern aus. Bei den Talentierten unter den Tänzern sieht es von Anfang an "nach was" aus.
Bei den Reitern ist es ja auch nicht anders. Manche setzt man aufs Pferd und die sitzen einfach und andere müssen sich dieses "einfach sitzen" über Jahre hinweg erarbeiten und kommen nie dahin.
Ich denke, ohne Talent kann man keine Liebe zum Handwerk entwickeln, man macht es nicht gerne.
Hm, warum gibt es dann soviele Reiter??

Ich würde zum Beispiel wahnsinnig gerne malen können, bin aber absolut talentfrei. Ich müßte mich also hinsetzen und üben, üben, üben..
Habe aber blöderweise keine Zeit dazu. Gleichzeitig weiß ich aber, dass meine Bilder nie so aussehen werden, wie von einem talentierten Menschen.

LG Alix
"Erst gehen lernen, dann dressieren" (Udo Bürger)
Max1404
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Beitrag von Max1404 »

Eine wirklich interessante Diskussion! :D

Ich möchte das Thema gerne noch um weitere Aspekte erweitern:

Zahlreiche Künstler befass(t)en sich nicht nur ausschließlich mit "ihrer" Kunst, sondern mit zahlreichen angrenzenden Künsten und/oder Wissenschaften. Als Beispiele seien Leonardo da Vinci und Michelangelo genannt, die sich von Anatomie bis hin zur Architektur mit zahlreichen Wissenschaften ihrer Zeit befassten. (So viel zu dem Dachstuhlbeispiel von Horsmän :wink: ) Ein Blick über den Tellerrand hat schon vielen geholfen ihre Kunst zu vervollkommnen.

Was bisher in der Diskussion völlig untergegangen ist, ist das Talent des Pferdes. Es gibt auch unter den Pferden Handwerker und Künstler. Wobei die Künstler erheblich schwerer zu reiten sind als die Handwerker, jedenfalls für den "Otto-Normal-Reiter". Ein perfekter Körperbau, ein angeborenes Gleichgewicht und eine große Gangmechanik machen jedoch noch lange keinen Künstler; das sind nur gute Voraussetzungen, um den "Job" möglichst optimal erfüllen zu können (sofern der Reiter, der drauf sitzt, gut genug ist). :wink:

Außerdem spielt die Chemie zwischen beiden eine ganz besondere Rolle. Das gilt auch für den Tanz, denn zwei technisch perfekte Tänzer bilden nicht unbedingt ein gutes Paar.

Zwei gute Handwerker können die Schwelle zur Kunst erreichen und sie möglicherweise auch überschreiten. Ein mittelmäßiges Pferd kann unter einem Reiter-Künstler über sich hinauswachsen. Aber ein Künstler-Pferd wird unter einem mittelmäßigen Reiter immer verlieren und an ihm verzweifeln.

Ein künstlerischer Eindruck kann niemals durch völlige Perfektion entstehen. Die absolute Perfektion ist langweilig. Zur Kunst gehört, dass sie aus der Normalität heraustritt, dass die Perfektion leicht gestört wird.

Vor der Kunst steht das Handwerk, und sehr gutes Handwerk bedeutet Leidenschaft, Kreativität, Hingabe, Körperbeherrschung, Ehrgeiz, Verzicht, Disziplin, Arbeit, Schmerz, Offenheit, Freude, Liebe, Fähigkeit zur Selbstreflektion und -kritik (und noch vieles mehr). Kunst bedeutet für mich die Steigerung all dessen durch Talent. Ein Künstler verschmilzt mit seiner Kunst - in vielen Fällen fast bis zur Selbstaufgabe.

Ich begnüge mich damit, das Handwerk ordentlich zu lernen (damit habe ich weiß Gott genug zu tun), und manchmal erlebe ich beim Reiten kurze Sternstunden, die für mich kostbar sind; Gefühle, die ich auch nach Jahren nicht vergesse. Vielleicht sind das kurze künstlerische Momente. Vielleicht aber auch nur der Beweis, dass mir mein Pferd zeigt, dass ich handwerklich so einiges richtig gemacht habe. :wink:

Ich jedenfalls bin strikt dagegen, das Wort "Kunst" in der Reiterei so inflationär zu benutzen, wie es derzeit offenbar modern ist.
Viele Grüße
Sabine
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Ielke
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Beitrag von Ielke »

...um nochmal auf das punktgenaue Reiten zurückzukommen und Horsemäns Meinung, außerhalb einer Sport-Aufgabe brauche man das nicht:

Wie sähe wohl eine Aufführung der Wiener Hofreitschule aus, wenn in der Quadrille jeder die Lektionen dort reitet, wo es gerade mal passt? Oder würdet ihr deren Philosophie nicht eher in die Ecke "Reitkunst" einordnen?
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ana springfeldt
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Beitrag von ana springfeldt »

in anderen Bereichen ist es so, dass man erst das Handwerk erlernt.
Die Beherrschung des Handwerkes ermöglicht dann, vielleicht auch
einmal Kunstwerke zu schaffen.
Etwa in der Fotografie :wink:
Aber das ist dann bereits eine enorme Messlatte.
Ich empfinde es in der Reiterei so, dass der Begriff "Kunst" da oft
sehr leichtfertig und fast inflationär verwendet wird.
Irgendwo habe ich gelesen, dass selbst die scheinbar unspektakulärste
Lektion in Vollendung zum Kunstwerk wird.
War das bei Steinbrecht ?
Ich meine wohl, es steht dort.
Gemeint ist damit, dass man jede Kleinigkeit immer feiner und besser
herausarbeitet, bis sie dann zu einem Kunstwerk wird.
Und sei es eine simple Hinterhandswendung... :D
aber der Wahrheit war es egal,
ob die Menschen an sie glaubten,
die Erde blieb eine Kugel
und der Spinner hatte Recht
horsman
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Beitrag von horsman »

@Ielke
nein, nein, nein, so war das nicht gemeint:

Präzision beim Reiten halte ich für sehr wichtig. Eine gerade Linie z.b., drei meter von der Wand geritten womöglich noch im versammelten Schritt ist eine große Herausforderung. Schludrigkeit ist sicher das genaue Gegenteil von Reitkunst. Dennoch würde ich als Reiter gerne selbst bestimmen, wann und wo ich eine Aktion einfordere und will es mir nicht durch eine vorgegebene Aufgabenstellung diktieren lassen. Nungut, zur Turnierdressur gehört das nunmal dazu.

Ich sehe auch nicht unbedingt Präzision bloss darin gegegeben, punktgenau eine Lektion zu reiten, sondern vor allem darin punktgenau das zu tun, was der Verständigung und der Übung des Pferd gerade bedarf und sehr genau auf das Gleichgewicht zu achten. Und da kann es sein, dass es gerade nicht sinnvoll ist, diese oder jene Übung jetzt an diesem oder jenem Punkt auszuführen, sondern, ggf. einzugreifen, abzubrechen, umzudenken, zu wiederholen.

Und präzise Balance z.B. sehe ich dem Video nur selten, sodass ich sagen würde, dass die Präzision dem Ritt weitestgehend sogar fehlt, auch wenn die Übergänge und Lektionen an ihrem vorgegebeben Punkt ausgeführt wurden.

Soviel zur Präzision.

@Ana Springfeld
Ja, eine einfache Übung zu vervollkommenen, das seh ich auch als schöner an, als mit vielen Übunge schwierig hintereinander abgespult im Mittelmaß zu bleiben. Danach erst peu a peu die guten Dinge zusammen fügen.

Und Ja, natürlich wird man fürs Reiten das Handwerk erlernen und immer weiter vervollkommnen müssen. Kein seriöser Reiter wird das wohl anders sehen. Mit Turnierreiten hat das aber doch nix zu tun.
First a relaxed mind, then a relaxed horse.
Gast

Beitrag von Gast »

horsmän hat geschrieben: Kein seriöser Reiter wird das wohl anders sehen. Mit Turnierreiten hat das aber doch nix zu tun.
Wieso? Weil Reiter, die Wettbewerbe bestreiten - aus welchen Gründen auch immer - keine seriösen Reiter sind?
Oder denk' ich jetzt zu kompliziert?
horsman
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Beitrag von horsman »

ich will damit sagen. dass man kein Turnierreiten braucht um sein Reiterhandwerk zu erlernen. Die Reiter vor 1936 haben es schließlich auch geschafft. Bei vielen Reitern hab ich sogar den Eindruck, dass es fast kontraproduktiv ist. Natürlich nicht zwangsläufig.
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Ielke
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Beitrag von Ielke »

horsmän hat geschrieben:ich will damit sagen. dass man kein Turnierreiten braucht um sein Reiterhandwerk zu erlernen. Die Reiter vor 1936 haben es schließlich auch geschafft. Bei vielen Reitern hab ich sogar den Eindruck, dass es fast kontraproduktiv ist. Natürlich nicht zwangsläufig.
Behauptet ja auch keiner... aber nur, weil es ohne Turnierhintergrund "gut" sein kann, muss es "mit" doch nicht schlecht sein?
Max1404
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Beitrag von Max1404 »

@Horsmän, wenn ich Deiner Argumentation logisch folge, sind also auch sämtliche öffentliche Auftritte, in denen eine festgeschriebene Folge geritten wird, z. B. im Rahmen einer Musikkür oder einem Pas de Deux, kontraproduktiv? Oder verstehe ich jetzt was völlig falsch? :kopfkratz:
Dass sich manche Reiter beim verbissenen Reiten von Aufgaben und Lektionenfolgen fürs Turnier selbst im Weg herumstehen, da sind wir uns einig. Aber nur, weil jemand auch Turnier reitet, muss er doch nicht gleich unsauber oder unseriös arbeiten?
Und dass gerade die Pas de Deux-Vorführungen der Wiener Reitschule auf GP-Niveau vom Grundsatz her ganz besondere Handwerkskunst erfordern, da sind wir uns doch einig, oder?
Viele Grüße
Sabine
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Max1404
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Beitrag von Max1404 »

horsmän hat geschrieben:ich will damit sagen. dass man kein Turnierreiten braucht um sein Reiterhandwerk zu erlernen. Die Reiter vor 1936 haben es schließlich auch geschafft.
Ich glaube nicht! Denn haben nicht die deutschen Reiter mit u. a. von Lörke ausgebildeten Pferden jede Menge Medaillien bei der Olympiade abgeräumt?
Und ritt nicht Stensbeck regelmäßig Turniere?
Wie war das noch mit den Franzosen? 1932? Da stellten sie den Dressur Olympasieger.
Gerade die Bauern bei uns in der Gegend, die schon immer neben Nutzvieh auch Pferde gehalten haben, sind Turniere geritten. Da hört man von alten Reitern noch Geschichten, wie sie gemeinsam einen Tagesritt zum Turnier unternommen haben ...
Ich kann verstehen, dass Du eine Abneigung gegen den Stil hast, der in den letzten Jahren häufig auf internationalen Turnieren in der Dressur zu sehen war. Die habe ich auch. Aber nicht jeder, der Turniere mit Warmblütern reitet, ist deshalb ein schludriger Reiter, der sich nur auf die Qualitäten seines Pferdes verlässt und es dann frühzeitig verschleißt. Und es findet doch langsam aber sicher eine Verbesserung statt, und zwar weg vom Stil à la Hollandaise und zurück zum guten Handwerk, das ist nicht zu übersehen. :wink:
Viele Grüße
Sabine
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Jen
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Beitrag von Jen »

Horsmän, es ist doch ein himmelweiter Unterschied, ob man eine Aufgabe reiten könnte, aber es nicht tut, weil man es nicht will. Oder ob man eine Aufgabe nicht reitet, weil man es schlicht nicht kann.

Eine Aufgabe zu reiten ist nicht die Ausbildung, sondern die Überprüfung derselben. Und viele dieser grossen Reiter, die du aufgezählt hast, wären wohl sehr wohl in der Lage gewesen, eine solche Aufgabe zu reiten. Ob man es tut oder nicht, ist schlussendlich nur persönliche Vorliebe, hat aber nichts mit der grundsätzlichen Fähigkeit zu tun. Deshalb find ich diese Diskussion, ob man nun eine Aufgabe reiten soll/darf/muss oder nicht, eigentlich sinnfrei und am Kern des Themas vorbei.
Liebe Grüesslis, Jen
***
Das Maul des Pferdes ist kein Bremspedal! Martin Plewa
Aimée
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Beitrag von Aimée »

hmmm....ich habe das Gefühl, dass es so gemeint ist mit der Turnierreiterei....das Pferd verspannt sich z.B. in der Prüfung bei der Piaffe. Da kann man schlecht zum Richter sagen, hey mein Pferd hat sich verspannt, ich reite z.B. jetzt mal kurz vorwärts.

Oder das Pferd ist jetzt noch nicht so weit irgendeine Lektion auszuführen, probiere ich es nochmal.

Wie schon o.g. kann man zuhause aufhören eine Lektion zu reiten, was auf einem Turnier Fragezeichen in die Gesichter der Richter und Zuschauer zaubern würde :D

Eine Aufgabe reiten sollte eigentlich dazu da sein, um zu schauen ob das Pferd sicher an den Hilfen steht, durchlässig ist.
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ana springfeldt
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Beitrag von ana springfeldt »

Mit dem Turnierreiten ist es wie mit vielen Dingen :

es kommt darauf an, was der Mensch daraus macht

Der Sport an sich, ist weder gut noch schlecht.

Ein Punkt ist, dass eine Überprüfung des tatsächlichen Könnens sehr
aufschlussreich sein kann.
Ich kenne das noch sehr gut :wink:
zuhause glaubt man ganz toll zu reiten und auf dem Turnier
wird man schnell auf den Boden der Realität geholt.

Leider ist es aber auch so, dass der Mensch, wenn eine öffentliche
Vorstellung ansteht, sich negativ verändert und eben leider anders
reitet und intoleranter gegnüber dem Pferd wird.
Es dauert viele Turniere lang, bis man fähig ist, in der Prüfung wirklich
cool zu reiten :lol:

Der entscheidende Punkt ist aber, dass die Bewertung oft nicht verständlich ist.
Das hat mich immer wieder sehr gestört.
Wenn man als Zuschauer erlebt, dass Reiter, die offenbar gegen alle Regeln der Reitlehre verstossen :shock: vorne landen.
Erklär das mal bitte Reitschülern... :cry:
aber der Wahrheit war es egal,
ob die Menschen an sie glaubten,
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