Reitkunst vs. Handwerk

Rund um die klassische Reitkunst

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Mary
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Beitrag von Mary »

Ich möchte mal die Musik ins Feld führen. Ich bin Harfenistin und habe bei einem Prof gelernt einschliesslich Notenlehre etc.pp.
Vorher habe ich allerdings schon Gitarre und Flöten, nur nach Gehör gespielt ohne Noten zu kennen .
Ich kenne Menschen die spielen alles sofort vom Notenblatt ab, ohne Fehler aber irgendwie fehlt was.
Mein Prof sagte immer, die mit Liebe zur Musik und Taktgefühl erleben Harmonie und sind im tausend mal lieber als die Techniker.
Ich glaube beim Pferd ist es ähnlich, Respeckt und liebe zum Tier reichen völlig aus um seine eigene Harmonie mit dem Partner Pferd zu erreichen.
Schulterherein ist das Aspirin der Reitkunst.
Nuno Oliviera
Max1404
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Beitrag von Max1404 »

Mary hat geschrieben:Ich glaube beim Pferd ist es ähnlich, Respeckt und liebe zum Tier reichen völlig aus um seine eigene Harmonie mit dem Partner Pferd zu erreichen.
Ich kann diesen Satz von Dir nicht unkommentiert stehen lassen. Er impliziert nämlich, dass man nichts können und nichts lernen muss und sich nur auf sein Gefühl (nichts ist trügerischer!) verlassen kann! Genau das ist der Grund, warum manche Gurus so erfolgreich sind. Und vieles, was da bei fragwürdigen Gurus passiert, ist tierschutzrelevant! Ein gründliches Basiswissen ist Voraussetzung, um dem Tier nicht zu schaden.

Ich glaube ich weiß, wie Du es meinst, und da stimme ich Dir auch zu. Allerdings muss man dafür ein enormes angeborenes Talent mitbringen. Es mag solche Autodidakten geben, die in ihre Reiterei sogar ein erhebliches Maß an Korrektheit einbringen, ohne lange Unterricht gehabt zu haben. Aber das sind außergewöhnliche Talente. Für den normalbegabten Pferdefreund ist dieser Weg nicht gangbar.

Talent ist das eine. Aber ohne Grundlagen und ohne Arbeit wird daraus niemals Kunst, meistens noch nicht einmal gutes Handwerk. Es gibt so viele hochtalentierte Menschen, die sich nur auf ihr Talent verlassen und nicht an sich arbeiten und die dann zu ihrem Erstaunen von einem reinen Techniker spielend leicht überholt werden. Diese Techniker sind dann auch die besseren Lehrer.

Wenn jemand Talent und Fleiß mitbringt, dann kann etwas ganz Großes daraus werden.
Zuletzt geändert von Max1404 am Sa, 28. Jan 2012 11:53, insgesamt 1-mal geändert.
Viele Grüße
Sabine
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Jen
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Beitrag von Jen »

Mary, ich glaube nicht, dass Liebe und Respekt alleine ausreichen, um Harmonie zu erreichen. Aber sie sind sicher eine unabdingliche Voraussetzung!

Ich möchte hier mal ein Beispiel aus dem Unterricht bringen. Im Frühjahr 2009 hab ich das Pferd-Reiterpaar das erste mal gesehen. Das Pferd damals 12/13 Jahre alt, ich dachte, mich trifft der Schlag, das Pferd sah wie über 20 aus. An Liebe und Respekt mangelte es der Besitzerin überhaupt nicht! Sie tat alles für ihr Pferd, sie hätte wohl ihr letztes Hemd für ihre Tiere gegeben, sie wollte alles richtig machen. Aber ihr fehlte es einfach an dem nötigen Wissen und der nötigen Fertigkeit. Ihr Sitz war eine Katastrophe und ihre gesundheitlichen Beschwerden machten es ihr auch nicht leicht. Sie hatte Angst vor dem GAloppieren und konnte das Pferd nicht annähernd auf der Spur reiten, zb. Zirkel auf rechter Hand war schlicht unmöglich, weil das Pferd wie ein Brett um die Kurve ging und dermassen über die Schulter reinfiel. Das Pferd war ganz schlecht bemuskelt, knochig, eingefallen, die HH schleppend und taktunrein, das Pferd extreeeem vorlastig und dadurch einen langen Bremsweg. Total liebes Pferd, wollte es recht machen, konnte aber nicht. Liebe und Respekt reicht einfach nicht! Bei allem guten Willen.

Um es kurz zu fassen: seit Anfang 2009 nun 1x wöchentlicher Unterricht, plus 1x wöchentlicher Beritt. Sie hat letztes Jahr das Brevet (Reiterabzeichen mit Theorie, und Praxis Gruppenreiten, Einzelreiten plus kleiner Springparcours) mit grossem Lob der Richterin bestanden. Letzte Woche ein absolutes Highlight in der STunde für die Reiterin. Sie fokussierte nur auf ihren Sitz, das Pferd in einem guten horizontalen Gleichgewicht mit einer leichten, aber regelmässigen Anlehnung (keine schlackrigen Zügel, wie bisher), Pferd in der richtigen Biegung, im Trab Zirkel vergrössern und verkleinern, nur über den Sitz. Keine Zügel- oder Beinhilfen nötig, die zwei waren in völliger Harmonie. Für mich ein richtiger Gänsehautmoment als sie nachher überglücklich dem Pferd um den Hals gefallen ist. War das nun Reitkunst? Nein, sicher nicht. War das Handwerk? Nein, nicht mal das. Es gäbe sicher noch genug zu bemängeln und einen Blumentopf würden die zwei an einer Dressurprüfung immer noch nicht gewinnen können. Ja, was war es dann? Ich weiss es nicht. Ich weiss nicht, wie ich das benamsen soll. Aber es war einfach schön! Und das Pferd sieht heute 5 Jahre jünger aus als es tatsächlich ist und die zwei sind total happy miteinander. Was will man mehr? Aber ohne diese kontinuierliche Arbeit an sich selber und mit der nötigen Unterstützung... das geht leider nicht.
Liebe Grüesslis, Jen
***
Das Maul des Pferdes ist kein Bremspedal! Martin Plewa
horsman
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Beitrag von horsman »

hier übrigens auch ein paar schöne Worte zur Reitkunst:
http://www.youtube.com/watch?v=Nu6XozHR ... re=related
First a relaxed mind, then a relaxed horse.
chantesse
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Beitrag von chantesse »

schöner Beitrag, Jen.
Gast

Beitrag von Gast »

Moins
horsmän hat geschrieben:hier übrigens auch ein paar schöne Worte zur Reitkunst:
http://www.youtube.com/watch?v=Nu6XozHR ... re=related

Auf die Gefahr hin, mich der Plasphemie verdächtig zu machen .. der Bild/Malen-Vergleich wird doch immer wieder gerne genommen. Den hat mir mein Ausbilder vor über 30 Jahren auch schon hinter die Ohren geschrieben.
Natürlich soll man beim Malen nicht ans Geld denken .. man soll aber auch keine 140 E pro Unterrichtseinheit einkassieren ;)

Davon abgesehen hat er recht, mit dem was er sagt.
saltandpepper

Beitrag von saltandpepper »

Den roten Stift an horsemän reicht, das war eine "zustimmende Äußerung" :wink:

Jen, da kann ich nur beipflichten.
Vielleicht kann man sagen, daß die Liebe und der Respekt sich auch dahingehend äußern, dass man unentwegt an sich arbeitet und nach Verbesserung strebt.
Technik ist wichtig, Gefühl ist wichtig, keines von beidem funktioniert ohne das andere.

Talent ist es, wenn man beide Dinge intuitiv richtig erbringt.

Können ist, wenn man das auch noch wissend und bewußt tut.

Gruß S&P
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Tossi
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Beitrag von Tossi »

Amen!
Die Schönheit der Dinge lebt in der Seele dessen, der sie betrachtet. (David Hume)
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Finchen
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Beitrag von Finchen »

saltandpepper hat geschrieben:Den roten Stift an horsemän reicht, das war eine "zustimmende Äußerung" :wink:

Jen, da kann ich nur beipflichten.
Vielleicht kann man sagen, daß die Liebe und der Respekt sich auch dahingehend äußern, dass man unentwegt an sich arbeitet und nach Verbesserung strebt.
Technik ist wichtig, Gefühl ist wichtig, keines von beidem funktioniert ohne das andere.

Talent ist es, wenn man beide Dinge intuitiv richtig erbringt.

Können ist, wenn man das auch noch wissend und bewußt tut.

Gruß S&P
Das finde ich eine extrem gelungene "Gegenüberstellung" bzw Zusammenfassung! :!:
Paula

Beitrag von Paula »

Schöne Geschichte Jen..das hätte bei mir auch eine Gänsehaut verursacht
Für mich ist Kunst:das man in der Lage ist einer Sache Leben einzuhauchen.Dem Zuschauer , Leser, Zuhörer Gefühle zu vermitteln.Und dabei sehr sauber arbeitet, Kunst hat auch mit Perfektion zu tun, mit Können.
Reiten, soll man idealerweise als Kunst betrachten, nämlich mit Gefühl betreiben( Zwiesprache mit dem Pferd halten und mit dem Körper erfühlen ob das Pferd sich wunschgemäß bewegt) und nach Perfektion streben.
Zum Reiten braucht man Geist und Popo so von Neindorff.Ich interprediere das so:
Popo steht für Gefühl und Können(sitzen können) und der Geist für Wissen und Einstellung zur Sache.
Talent beschreibt Seunig als Reitertakt: wenn man vorher spürt was kommen wird.Dem Pferd seine Gedanken ablauschen kann.Naja ich seh es so Talent ist ein gutes Körpergefühl fürs Reiten,schnell in die Bewegung reinfinden mit der Hand ruhig sein können .Ob die Einstellung dann zur Sache passt, das steht auf einem anderen Blatt,ob man fleißig dran arbeiten will auch.Talent und Fleiß und Liebe und Leidenschafft,ob man ein guter Reiter wird liegt aber auch dran ob man die Möglichkeit zum intensiven Reiten hat .
Zum Können gehört einfach Üben Üben Üben.zig Tausende von Stunden.
Ach und Reiten gilt als die schwierigste aller Künste..Ein Dressurpferd ist ein Kunstwerk das jeden Mal aufs neue erschaffen werden muss..so ähnlich schrieb doch P.
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Antsche-Maus
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Beitrag von Antsche-Maus »

Dem schließe ich mich an. Für mich ist etwas dann Kunst, wenn man richtig das Leben, Herzblut, Leidenschaft spürt. Vollkommene Harmonie. Etwas das den Betrachter (oder natürlich z.B. den Zuhörer) berührt. Die Grundlage dessen ist aber gutes Handwerk, ohne geht es nicht.

Ich zum beispiel liebe Musik, ich kann absolut darin aufgehen, höre kleinste Unstimmigkeiten, die mich dann kolossal stören... Aber umsetzen kann ich es selbst nicht, weil es mir an gutem Unterricht und ganz sicher auch an Talent fehlt.

Das gleiche, nur umgelehrt, sieht man auch oft beim Reiten. Viele reiten zwar sehr korrekt und es schaut auch ganz nett aus, aber dem Ganzen fehlt die Leidenschaft. Das ist dann gutes Handwerk, nicht mehr und nicht weniger, aber es berührt mich nicht. Umgekehrt gibt es Leute die streng genommen nicht ganz so gut reiten, aber einfach mit Leidenschaft dabei sind und eine ganz besondere Beziehung zum Tier haben, was dann schon eher an Kunst herankommt.

Meiner Meinung nach, kann man also durchaus ein guter Handwerker sein, ohne ein Künstler zu sein, aber kein Künstler ohne ein bisschen gutes Handwerk als Grundlage. Kunst vereint Handwerk und Herzblut :)
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Josatianma
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Beitrag von Josatianma »

horsmän hat geschrieben:Ja, natürlich wird man fürs Reiten das Handwerk erlernen und immer weiter vervollkommnen müssen. Kein seriöser Reiter wird das wohl anders sehen. Mit Turnierreiten hat das aber doch nix zu tun.
Warum hat das Turnierreiten nichts mit Kunst zu tun? Braucht ein Künstler nicht eine Bühne, ein Publikum? Ich reite Turniere. Warum - ich möchte mit meinem Pferd in diesen ca. 5 Minuten reiten zeigen, dass es locker und harmonisch sein kann. Von der Kunst empfinde ich mich zwar noch entfernt, aber es obliegt auch nicht mir, zu entscheiden, ob es Kunst ist oder nicht, sondern dem Publikum!

Als Beispiel: an der Equitana Open Air bin ich eine Kandaren-L für Barockpferde geritten. Pico war auf dem Abreiteplatz schon einfach da. Ich bin eingeritten und am Rande standen Menschen, die mir völlig unbekannt waren, aber die sich über unseren Anblick freuten. Diese Freude kam bei mir an und ich fing an zu strahlen auf meinem Pferd und tanzte für mich durch diese Prüfung. Sie war nicht perfekt, aber auch ein Blick auf die Richter im Vorbeireiten zeigte strahlende Gesichter. Ich habe in dem Moment keine Turnierprüfung geritten.

Bevor jedoch in einem Dressurviereck vor Richtern und Publikum Kunst stattfinden kann braucht es einiges an handwerklicher Erfahrung. Und damit sind wir wieder bei dem Video vom Ausgangspunkt. Dieses Paar kann gemeisam die Kunst erreichen, zumindest in meinen Augen!

Somit schließen sich für mich Reitkunst und Turnierreiterei auf jeden Fall nicht aus.
Liebe Grüße, Sabine

Ideale sind wie Sterne, man kann sie nicht erreichen, aber man kann sich an ihnen orientieren

"Sei du selbst die Veränderung, die du dir wünschst für diese Welt" Mahatma Gandhi
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Finchen
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Beitrag von Finchen »

Turnier und Kunst schließt sich ganz sicher nicht aus - ebenso wenig wie künstliche Show Kunst ist! :lol: Leider wird letzteres zu häufig verwechselt und auch leider wird auf Turnieren weniger Kunst gezeigt, als gut wäre, aber eben Reiter wie z.B. Sabine braucht es doch grade auf den Turnieren, damit sich da hoffentlich langsam aber stetig der Anspruch an das WIE der Reiterei ändert, dort auch wieder mehr Kunst zu sehen ist!
Gast

Beitrag von Gast »

Zur Kunst wird Reiten, wenn ALLES funktioniert und keiner erkennen kann, wie man es macht.
Tess
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Beitrag von Tess »

Ich dachte bislang immer, dass die Beherrschung des Handwerks die Grundvorraussetzung für die Schaffung von Kunst ist.
Warum sollte das in der Reiterei anders sein?
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