Wallach beißt überall rein

Infos und Fragen rund ums Thema "wie Pferde denken"...

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Rosana
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Beitrag von Rosana »

Wow- sehr interessante Diskussion! Mein Respekt :wink: an die "Kontrahenten", dass ihr trotz recht gegensätzlicher Auffassungen jeweils sachlich auf die Argumente der anderen eingegangen seid.
Ich persönlich sehe die Dinge wie Gawan und finde, dass du das sehr gut in Worte gefasst hast!
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Pferdialog.de
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Gawan
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Beitrag von Gawan »

Mit dem Respekt ist es schon eine seltsame Sache, ich habe jetzt in vier Büchern zum Thema Pferdeverhalten in den Registern nach dem Begriff “Respekt” gesucht und nichts gefunden. Na ja, im Gegensatz zu Reitern und Pferdeflüsterern verstehen Verhaltensforscher vermutlich nichts von Pferden.
Auch die Rangordung hat es in sich. Pferdeherden sind keine Armeen, und Rangverhältnisse können je nach Situation auch im Kreis herumgehen, also Pferd A wird an der Futtterstelle von Pferd B vertrieben, dann kommt Pferd C und vertreibt Pferd B und schliesslich vetreibt Pferd A das Pferd C. (A<B<C<A?) Wer ist jetzt hier der Ranghöchste? Oder ein ranghohes Tier X “besetzt” die Tränke, ein rangniedrigeres Y wird sich also nicht hinwagen, es sei denn, es ist ein heisser Tag, es kommt von einem anstrengenden Ausritt zurück und wurde von seinem Besitzer nicht getränkt, dann ist der Drang zu trinken u.U. stärker als die Angst davor, sich mit X anzulegen. Mag sein, das X auf seinem Platz an der Tränke beharrt, und dann wird Y halt durstig darauf warten, bis er hin darf, aber ob sich Y deswegen in der Nähe von X sicher fühlt? Möglicherweise weicht er ihm in Zukunft auch aus und will nichts mit ihm zu tun haben. Man kann dieses Verhalten als “respektvoll” bezeichnen, letztlich ist es einfach eine Kosten-Nutzen-Rechnung für Y, ob das momentane Objekt der Begierde (z.B. Wasser) es wert ist, sich deswegen mit X anzulegen.

In einem gewissen Sinn mache ich beim Umgang mit Pferden auch eine Kosten-Nutzen-Rechnung, also wie wichtig ist mir das Ergebnis und wie gross ist der Aufwand dafür.
Was etwa das Verhalten am Putzplatz angeht: Als zukünftiges Wanderreitpferd muss Gawan lernen, längere Zeit angebunden zu stehen, auch wenn ich nicht immer dabei bin. Wie schon beschrieben geht er nach etwas Kauen auf dem Anbindestrick meist auf “Standby”, also genau, was ich will. Ich erwarte auch nicht, dass er sich beim Putzen dauernd auf mich konzentriert, manchmal döst er beim Putzen und reagiert auch beim Satteln fast schlaftrunken; offensichtlich fühlt er sich in der Situation sicher genug, dass er es sich erlaubt, zu dösen. Da sich Pferde (wie Menschen) ja nicht beliebig lange konzentrieren können, “verbrauche” ich die Konzentration lieber bei der Arbeit als am Putzplatz. Hie und da kommt es vor, dass Gawan nicht auf Standby geht, sondern nervös rumhampelt, was nach einiger Zeit von selbst wieder aufhört.
Beim Reiten dagegen ist mir z.B. wichtig, dass Gawan beim Aufsteigen ruhig steht. Daher habe ich schon Wochen, bevor ich das erste Mal aufstieg, angefangen, ihn neben den Plastikblock zu stellen, den ich zum Aufsteigen benutzen wollte. Ich stellte ihn jeweils nach dem Longieren hin, links und rechts, gelegentlich bekam er dort ein Leckerli, dann fing ich an auf den Block zu steigen, später beugte ich mich dabei über seinen Rücken und fuchtelte mit den Armen rum, dann fing ich an, mich auf seinen Rücken zu stützen, bis ich, die Füsse immer noch auf dem Block, bäuchlings auf seinem Rücken liegen und ihn auf der anderen Seite dort, wo der Schenkel hinkommt, tätscheln konnte. Aufsteigen in der Halle war nach dieser Vorbereitung auch nie ein Problem. Das Aufsteigen draussen musste ich dann nochmals extra mit ihm üben (war eine Sache von zweimal fünf Minuten), was zeigt, dass er den Vorgang “Aufsteigen” anfangs nicht vom Ort unabhängig verstand.
Man sieht, wenn mir etwas wichtig ist, kann ich durchaus einen grossen Aufwand dafür betreiben. Aber ob Gawan in den Anbindestrick beisst oder im rechten Winkel zur Wand steht interessiert mich nicht sonderlich. Ich glaube auch nicht, dass dies einen Einfluss auf sein Benehmen in anderen Situationen hat. Ich habe schon Pferde erlebt, die beim Putzen etc. echt mühsam und schwierig waren, beim Reiten dagegen lasen sie einem gewissermassen die Wünsche von den A...backen ab. Umgekehrt gibt es Pferde, die sind im Umgang vorbildlich brav und unter dem Sattel eine Katastrophe. Amüsant finde ich (man verzeihe mir die Schadenfreude), wenn ein Pferdebesitzer sein Pferd ge-join-upt hat, damit die Rangordnung klar wird, und das Pferd sucht dann auf der Weide das Weite, sobald es seinen Besitzer erblickt.
Gawan konnte ich bisher immer von der Weide holen, manchmal kommt er mir auch entgegen, meist in gemütlichem Schritt, gelegentlich auch im Trab. Einmal kam er sogar im Galopp gerade auf mich zugerast, ich blieb stehen (“Wurzeln schlagen, Wurzeln schlagen”), und er hielt einen Meter vor mir an. Taucht ein Pferd auf, dem Gawan eher ausweicht, “versteckt” er sich manchmal hinter mir. Auch andere Pferde habe ich schon aus der Herde geholt, einmal holte mich eine Miteinstellerin zu Hilfe, weil ein Wallach ihre Stute bewachte. Der Wallach machte eine grosse Show mit Ohrenanlegen und Zähneblecken, da ich aber wusste, dass er ein Papiertieger war, holte ich ruhig die Stute; wie man sieht, bin ich noch am Leben...

Für mich ist Gelassenheit, innere Ruhe im Umgang mit Pferden viel wichtiger, als jede noch so kleine Regung des Pferdes gleich als Majestätsbeleidigung zu ahnden. Gerade bei freundlich gemeinten Annäherungen (Putzverhalten) wirkt es auf ein Pferd wohl eher irritierend, wenn es brüsk abgewiesen wird. Ich versuche jeweils die Situation auch aus Sicht des Pferdes zu verstehen. Beispielsweise erwarte ich nicht, dass ein Pferd sich auf Anhieb überall anfassen lässt, denn damit dringe ich in seine “Intimsphäre” ein (die bei Gawan lustigerweise nicht der Schlauch war, sondern die Ohren).
Ich glaube auch nicht, dass ich einem Pferd ein für alle Mal ein Rangverhältnis beibringen kann, da Rang bei Pferden situationsbedingt ist; ist für ein Pferd nicht klar, um welche Ressource gestritten wird, ist eine Rangdiskussion aus seiner Sicht sinnlos. Der Rang führt auch nicht zwingend zu einem Gefühl der Sicherheit für das Pferd; wenn ich nur die Attribute des Rangs beanspruche (z.B. das Pferd weichen lasse), aber nicht mit meinem übrigen Verhalten zeige, dass ich Bescheid weiss, werde ich das Pferd nur verrückt machen, so dass es mich einfach als lästig empfindet. Zwischen Rang und Sicherheit besteht zudem eine gewisse Spannung: ein Pferd, das eher nachgibt und mich folglich schneller als höherrangig ansieht, ist wahrscheinlich auch an sich unsicherer, als ein Pferd, das seinen eigenen Kopf hat.

Damit genug für heute.
Tanja Xezal
"Der Reitlehrer sei unser eigenes Pferd" SGS
(und der Schüler zeige Geduld, Demut und Hingabe)
Draussen bin ich 4:0 unterwegs, in der Halle 3:1, manchmal 1:3.
Kiwi
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Beitrag von Kiwi »

Wow Tanja, toller Beitrag!

Und ich denke, dass das meiner Ansicht über den Umgang mit dem Pferd sehr nahe kommt. Ich werde jetzt versuchen, intensiver Bodenarbeit mit ihm zu machen (einfach um ihn besser verstehen und kennen lernen zu können) und beim täglichen Umgang etwas mehr drauf zu achten, dass er nicht an MIR rumleckt und -knabbert, der Strick ist mir aber ehrlich gesagt egal. Wenn er damit das Bedürfnis, an mir zu rumzuschlabbern ausgleichen kann :)

Abgesehen davon braucht mein Herr das Kauen und Schlabbern auch, um z.B. neu gelernte Sachen zu verarbeiten. Ich weiß nicht ob es dann sinnvoll ist, ihm das komplett abzugewöhnen :kopfkratz:
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Tossi
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Beitrag von Tossi »

@ Kiwi

Jetzt hatte ich mir schon eine ausführliche Antwort auf Gawans Gedanken überlegt, aber das hat sich mit Deinem Post eigentlich erledigt.

LG Lisa

P.s. dass ein Pferd "das Kauen und Schlabbern auch, um z.B. neu gelernte Sachen zu verarbeiten" braucht, wage ich allerdings ernsthaft zu bezweifeln - das sind zutiefst menschliche Interpretationen...
Die Schönheit der Dinge lebt in der Seele dessen, der sie betrachtet. (David Hume)
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