Kleine Einführung in die klassische Reitkunst

Rund ums Thema Pferd und die klassische Reitkunst

Moderator: Josatianma

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chica
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Kleine Einführung in die klassische Reitkunst

Beitrag von chica »

„Ohne Leichtigkeit werden alle Bewegungen des Pferdes unnatürlich.“ Nuno Oliveira

Schließen Sie einen Moment lang die Augen und stellen Sie sich Folgendes vor: Sie sind in der Lage, mit Ihrem Pferd durch feine Kommunikation einen gemeinsamen Tanz aufzuführen. Zwei Körper, die zusammen mit Leichtigkeit, Geschmeidigkeit und Kraft der Schönheit der Bewegung Ausdruck verleihen. Reiten ohne Kraft und Gewalt, sondern mit Sanftmut und Grazie…

Viele Reiter und Reiterinnen träumen von einem leicht zu reitenden Pferd, das motiviert und konzentriert bei der Sache ist, dessen Bewegungen sich bequem sitzen lassen und bei dem winzige Signale ausreichen. Aber nicht jede Reitweise scheint diesem Ziel förderlich zu sein.

Nicht nur im Hochleistungssport machen immer öfter Methoden wie z.B. die Rollkur negative Schlagzeilen. Auch in ganz normalen Reitschulen sieht man nur allzu oft verbissene Reiter und zappelige Pferde, die kaum noch in der Lage sind, klare Gänge und schöne Bewegungen zu zeigen. Überforderung gehört in der herkömmlichen Reitweise zur Tagesordnung, was dazu führt, dass die Freude am Reiten nicht nur beim Pferd, sondern auch bei den Reitern häufig auf der Strecke bleibt.

So erklärt sich vielleicht die Faszination, die zunehmend für viele von der klassischen Reitkunst ausgeht: Reiten als Kunstform und nicht als eine Art Kampfsport.

Der Zauber der Leichtigkeit

In der spanischen Hofreitschule, die wohl zu den bekanntesten Schulen dieser Richtung gehört, bei zeitgenössischen Reitmeistern und bei einer ganzen Reihe von Privatpersonen, die der klassischen Reitlehre folgen, lassen sich wundervolle Lektionen bis zur hohen Schule bewundern. Zu sehen sind dort Pferde die je nach Ausbildungsstand runde Grundgangarten, eine echte Dehnungshaltung, saubere Seitengänge oder auch wirkliche Piaffen zeigen. Und das mit einer fast spielerischen Leichtigkeit, ohne rotgeschwitzte Gesichter ohne Zügelzug und zugeschnürte Pferdemäuler.

„Mit Leichtigkeit“ heißt dabei natürlich nicht „von allein“ – im Gegenteil: Lektionen der hohen Schule sind eine Folge einer mehrjährigen Ausbildung sowohl von Pferd als auch Reiter – und zwar eine im Sinne des Pferdes und nicht gegen es.

Was versteht man unter „klassischer Reitkunst“?

In der Wikipedia findet sich folgende Definition: „[Die] klassische Reitkunst ist ein Reitsystem für Pferde, das über längere Zeiträume bewährte Prinzipien der Pferdeausbildung zu einem Kanon zusammenfasst und in seiner verfeinertsten Ausprägung einen künstlerischen bzw. kunsthandwerklichen Anspruch an den Ausdruck des Pferdes hat.“

Die klassische Reitkunst ist also schon per Definition ein Sammelsurium von Ansätzen unterschiedlicher Meister und Richtungen und kann deshalb nicht auf eine „Methode“ reduziert werden. Es gibt natürlich Ähnlichkeiten in den Ansätzen der verschiedenen Vertreter und Schulen, aber eben auch große Unterschiede. Verbindend ist jedoch das reiterliche Selbstverständnis.

Grundelement Freiwilligkeit

„Hüten wir uns sehr, das junge Pferd zu verdrießen
und seine Anmut zu ersticken,
denn diese gleicht dem Blütenduft der Früchte,
der, wenn er einmal verflogen ist,
niemals wiederkehrt“!

François Robinchon de la Guérinière

Klassische Reitmeister setzen auf die Freiwilligkeit des Pferdes. Nur was das Pferd mit Freude ausführt, kann ihrer Auffassung nach harmonisch wirken. Nur in dem, was das Pferd von sich aus zu geben bereit ist, kann es die ihm eigene Ausstrahlung zeigen. Zwang und Gewalt jeder Art zerstört den Zauber, der möglich ist.

Viele Vertreter der klassischen Reitlehre lehnen Hilfsmittel wie Ausbinder, Sperrriemen u.ä. ab, sondern versuchen durch eine stetige Verfeinerung der eingesetzten Hilfen das Pferd dazu zu befähigen, auch schwierigste Lektionen selbstständig ausführen zu können.

„Ein Pferd auszubilden bedeutet nicht nur,
dass man es zum Gehorsam erzieht, wie viele es meinen.
Genauso wichtig ist es, dass das Pferd mit Freude macht,
was man von ihm verlangt.“

Nuno Oliveira

Die Ausbildung auf das jeweilige Pferd abstimmen

Das Ziel von Freiwilligkeit und Leichtigkeit setzt voraus, die jeweilige natürliche Veranlagung eines Pferdes zu erkennen und vor allem zu akzeptieren und es ganz individuell nach seinen Möglichkeiten auszubilden und zu fördern.

In der Praxis bedeutet das unter anderem, die Grenzen sowohl der Lern- als auch der Leistungsfähigkeit eines Pferdes zu respektieren. So ist z.B. auf kurze Arbeitsphasen zu achten, die das Tier nicht überfordern, gefolgt von Lob und Entspannung. Und es muss akzeptiert werden, dass nicht jedes Pferd für Piaffen oder Levaden geeignet ist.

Alois Podhajsky sagte dazu: „Den besten Anhaltspunkt für das richtige Arbeitsmaß bietet die alte Regel, dass das Pferd genauso munter in den Stall zurückkehren soll, wie es ihn verlassen hat.“ Ein schönes Ziel für eine gemeinsame Arbeit, die Lust auf das nächste Mal macht.

Ausbildung als Lebensweg

Die klassische Reitkunst bietet keine schnellen Lösungen. Ausbildung wird hier im Idealfall nicht als Mittel zum Zweck (z.B. Turniererfolg o.ä.) gesehen, sondern als gemeinsamer Weg.

Ein Weg bei dem beide lernen – Mensch und Tier. Und das mit- und voneinander.

Lektionen der klassischen Reitkunst

Die klassische Reitkunst zeichnet sich auch durch ihre besonderen Lektionen aus.

Das Schulterherein – die Schlüssellektion

So verschieden auch die Vertreter der klassischen Reitkunst in vielen Einzelfragen sein mögen, so scheinen sie sich einig darüber, dass das Schulterherein eine Schlüssellektion ist.

Ziel der Gymnastizierung ist, dass das Pferd durch eine vermehrte Hankenbeugung lernt, mehr Gewicht auf die Hinterhand aufzunehmen. Das befähigt es, das Reitergewicht zu tragen und gleichzeitig in der Schulter und Vorhand leicht und frei zu werden. Und genau hier entfaltet das Schulterherein seine Wirkung.

"Man vergesse nie, dass die Dressur eine geregelte Gymnastik,
aber keine Zwangsmethode sein soll.
Der Körper des Pferdes soll nicht auf einmal in die gewünschte Form hineingepresst werden, sondern allmählich befähigt werden, dieselbe zwanglos anzunehmen."

Gustav Steinbrecht

Weitere Lektionen

Neben dem Schulterherein gibt es drei weitere Seitengänge: Konterschulterherein, Travers und Renvers. Allein gemeinsam ist, dass das Pferd gebogen auf zwei oder mehreren Hufschlägen geht (je nach Abstellung.)

Darüber hinaus unterscheidet man die Lektionen auf der Erde und Lektionen über der Erde.

Zu den Lektionen der Hohen Schule auf der Erde gehören z.B.:

- Galopppirouette: eine Wendung um die Hinterhand im versammelten Galopp
- Passage: Trab in verzögerten Tritten mit einer verlängerten Schwebephase
- Piaffe: Trab auf der Stelle bzw. mit geringer Vorwärtstendenz bei starker Hankenbeugung
- Spanischer Schritt: das Heben der Vorderbeine in einem großen Bogen nach vorn

Und zu den Lektionen der Hohen Schule über der Erde zählt man u.a.:

Courbette: ursprünglich ein sehr hoch heraus gesprungener Galopp mit geringstem Raumgewinn im Zweitakt, bei uns aber die Beschreibung eines oder mehrerer Sprünge des Pferdes nur auf den Hinterbeinen.

Kapriole: das Pferd springt mit allen vier Beinen ab, zieht die Vorderbeine unter den Körper und schlägt mit der Hinterhand nach hinten in die Luft.

Levade: das Pferd erhebt sich in einem Winkel von weniger als 45° auf die Hinterbeine und zieht die Vorderbeine an den Leib. Bei mehr als 45° und einer geringeren Hankenbiegung spricht man von einer Pesade

Wichtige Vertreter und Schulen der klassischen Reitkunst

Eine Auswahl der Schulen

- Die Spanische Hofreitschule in Wien, Österreich
- Die Königlich-Andalusische Reitschule in Jerez, Spanien
- Das Reitinstitut Egon von Neindorff in Karlsruhe, Deutschland
- Die Ecole Nationale d'Equitation in Terrefort bei Saumur, Frankreich, mit dem Cadre Noir.
- Die Escola Portuguesa de Arte Equestre in Queluz, Portugal

Einzelne Vertreter (in Auswahl)

- Antoine de Pluvinel (1555 - 1620) – Sprach sich für eine gewaltfreie Lehrmethode aus und plädierte dafür, den Charakter des Pferdes zu beachten. Seiner Ansicht nach muss das Pferd selbst Freude am Reiten haben. Pluvinel erfand die Pilaren als Hilfsmittel für die Arbeit an der Hand.

- François Robichon de la Guérinière (1688 - 1751) – Sein Buch „Ecole de Cavalerie“ gilt als erste systematische Ausbildungsbeschreibung. Sie führt vom Leichten zum Schweren und bildet noch heute die Grundlage der klassischen Reitkunst. Auch er lehnt Gewalt in der Ausbildung ab und gilt als Erfinder des „Schulterhereins“.

- Francois Baucher (1796-1873) – Sein Ansatz war diskutiert und umstritten. Er befasste sich ausführlich mit dem Thema der Versammlung. Übungen wie die „Bergziege“ sollen auf ihn zurückgehen.

- Gustav Steinbrecht (1808-1885) – Von ihm stammt der berühmte Ausspruch: „Reite dein Pferd vorwärts und richte es gerade". Er verband vorwärtstreibende mit versammelnden Elementen.

- Alois Podhajski (1898 - 1973) – Beeinflusste durch seine Arbeit die Spanische Hofreitschule wesentlich.

- Nuno Oliveira (1925-1989) – Gilt als der letzte der “großen Meister”.

Zu den „modernen Klassikern“ zählen u.a. Bent Banderup, Richard Hinrichs, Philippe Karl.

Verfasserin: Medora
LG Ines
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"Die Kritik an anderen hat noch keinem die eigene Leistung erspart."
(Noël Pierce Coward)
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