Vorab nochmals das ursprüngliche Zitat, auf das sich meine Frage bezieht, und dessen letzer Satz mir mysteriös vorkommt:
Anlehnung: entwickelt sich im Pferd unter reiterlicher Einwirkung im Kontext anatomisch-physischer Veränderungen und ist somit Folge einer naturgesetzlichen Zwangsläufigkeit. Die durch gleichmäßiges Vortreiben vermehrt vor- bzw. untertretenden Hinterbeine verändern im Pferd dessen gewohnte Gleichgewichtssituation. Ein Naturgesetzt zwingt jeden belebten Körper dazu, verlorenes oder verändertes Gleichgewicht wieder her zu stellen bzw. auszugleichen. Einem Pferd gelingt dieser Gleichgewichtsausgleich nur nach vorne, dh. durch Streckung seines Halses, genauer gesagt: durch das Herandehnen seiner gesamten Wirbelreihe, einschließlich der Halswirbel ans Trensengebiss. Findet das Pferd dabei mit der Stirnline vor der Senkrechten eine stete, federnd elastische Verbindung zur weich aushaltenden Reiterhand als Fixpunkt, hilft ihm diese Anlehnung, sich in seinem neu erworbenen Gleichgewicht in Balance zu halten.
Ulrike hat geschrieben:Das Problem ist ja, ZWEI verschiedene Schwerpunkte und Gleichgewichte miteinander in Einklang zu bringen.
Das Pferd muss sich in das Gleichgewicht bringen und den Reiter dazu, der Reiter, versucht, im Gleichgewicht zu bleiben und auf das Gleichgewicht des Pferdes einzugehen, mit weichen Händen und geschmeidigem Sitz.
Insofern kann das Pferd an einem gut sitzenden Reiter schon sein Gleichgewicht finden, der Reiter ist nicht so starr, wie die Balancierstange an der Wand, aber, er hilft dem Pferd schon, das seinige zu finden und zu verbessern.
Für mich ist das den ganzen Ausbildungsweg über das Grundprinzip, einen Einklang der Gleichgewichte herzustellen.
Stolpert z.B. mein Pferd, kann ich durchaus mit der Hand die Möglichkeit bieten, sich abzustützen, zumindest habe ich so ein Gefühl.
Das ist nicht Münchhausens Zopf, denn an dem hat er zwei nach oben weg gezogen, der Schelm.
Meine Frage bezog sich auf die Aussage, die Reiterhand könne dem Pferd helfen, das Gleichgewicht zu halten, von Schwerpunkten war hier nie die Rede, dass die eine Rolle spielen ist klar. Zum Stolpern: Stell dir vor, du stolperst nach vorne, und das Äffchen auf deinen Schultern zieht dich an den Ohren, das wird dir kaum helfen. Was dir eventuell hilft, ist wenn das Äffchen in dem Moment seinen Schwerpunkt nach hinten verlagert, weil sich damit auch euer gemeinsamer Schwerpunkt nach hinten verlagert.
Rapunzel hat geschrieben:Gawan: Du vermischst da so viel, dass es ein ziemlich unentwirrbares Knäuel ergibt. Ein Pferd im Gebirge und/oder ohne Reiter hat normalerweise keine Gleichgewichtsprobleme bzw. geht es dabei um eine ganz andere Form von Balance - sieht man zB bei freilaufenden Pferden, die im Galopp um eine Kurve rennen: in schönster Außenstellung und auf der Vorhand. Das ist aber auch eine Form von Balance und funktioniert für den Bedarf des Pferdes prima. Beim (dressurmäßigen) Reiten willst du aber eine völlig andere Art des Gleichgewichts und des Gebrauchs von Muskeln, deshalb bringt es nicht so viel, die natürliche Art des Ausbalancierens eines reiterlosen Pferdes für irgendwelche Rückschlüsse heranzuziehen.
Darum habe ich das Beispiel der Saumpferde genommen, die ja auch eine tote, folglich nicht hilfsbereite, Last tragen. Und wenn du schon mal eine grössere, sperrige Last getragen hast, weisst du, dass man da einiges auszubalancieren hat. Dass das Pferd unter dem Reiter eine andere Haltung einnehmen soll, weiss ich auch, mir ging es speziell um die Aussage, der Reiter könne via Hand (nicht über die Verlagerung seines eigenen Schwerpunktes, davon war nicht die Rede) dem Pferd helfen, sein Gleichgewicht zu halten.
saltandpepper hat geschrieben:Gawan, dein Beispiel mit dem Balken ist ein sehr gutes ! Übertrage das mal auf einen Seiltänzer. Der Seiltänzer ( höhere Anforderung als ein Balkengänger

) nimmt zur Unterstützung seines Gleichgewichtes und zur besseren Feinabstimmung seiner Koordination eine Balancestange.
Diese ist ja kein Fixum im Sinne einer "Stütze", sondern ein Fixim für Focus und ein Ruhepunkt.
Laut Wikipedia
https://de.wikipedia.org/wiki/Seiltanz hat die Balancestange folgende Funktion:
Hochseilläufer benutzen üblicherweise eine Balancierstange, die zwischen 5 m und 20 m lang und bis 30 kg schwer ist, um ein größeres Trägheitsmoment und einen tieferen Schwerpunkt zu erlangen, was das Balancieren erheblich erleichtert. Das ist was ganz anderes als die Reiterhand. Um beim Bild des Seiltänzers zu bleiben, würde das Äffchen auf den Schultern dem Reiter entsprechen, was aber den Schwerpunkt höher statt tiefer macht, und es würde dem Seiltänzer kaum helfen, wenn das Äffchen an seinem Kopf rumfummelt.
saltandpepper hat geschrieben:Ähnliches gilt übriens auch für das Balett : tanzt man als Paar, so bietet der Partner z.B. bei einer Piruette ein Fixum.- Allerdings nicht um sich an ihm festzuhalten, sondern vielmehr um ein Fixum für den Focus und eine Orientierung zu geben, um den man sein Gleichgewicht herumorganisiert.
Ich nehme an du meinst eine Figur, bei der der Tänzer mehr oder weniger am Ort bleibt und der sich drehenden Tänzerin einen Orientierungspunkt im Raum gibt, der ist dann aber gerade ausserhalb des Gleichgewichtssystems Tänzerin. Der Situation beim Reiten würde eine Tanzfigur entsprechen, bei der der Tänzer die Tänzerin trägt.
saltandpepper hat geschrieben:Biete dem Menschen auf dem Balken eine Fingerspitze an, die er bei seinem ersten Gang hinüber mit seiner Fingerspitze berühren kann und schon ist er sicherer, obwohl das mit "Halt geben" im physikalischen Sinn nichts zu tun hat . Es ist ein "Leiten".
Das kenne ich von meinen ersten Versuchen auf der Slackline, aber da ist die Hilfe, und sei es nur als Leitung, wiederum ein Orientierungspunkt im Raum ausserhalb meines eigenen Gleichgewichts. Woran ich mich orientiere ist das Problem, wenn ich versuche auf einem Bein auf den Zehenspitzen zu balancieren und weil ich noch unsicher bin einen "Fixpunkt" brauche, dann fasse ich an das nächste Objekt, eine Tischkante, einen Baum, den Türrahmen, von mir aus noch die Nase meines Partners, aber wohl kaum an meine eigene Nase.
saltandpepper hat geschrieben:So verhält es sich auch beim Pferd. Die Anlehnung ist die Figerspitze, die einen/ das Pferd führt.
Wenn ich neben dem Pferd hergehe.
saltandpepper hat geschrieben:Und Ulrike, richtig, die Kunst beim Reiten ist das Spiel mit dem Gleichgewicht.
Erst einmal muß man lernen nicht zu stören und dann muß man lernen gezielt/zielgerichtet zu "stören"- nämlich um Einfluß zu nehmen, auf das Gleichgweicht des Pferdes.
Damit bin ich voll einverstanden, erst möglichst nicht stören, dann durch sublime Störungen das Pferd beeinflussen. Von
Helfen ist hier allerdings nicht die Rede.
Motte hat geschrieben:Um es mal mit Goethe zu sagen:
"Wenn ihr's nicht fühlt, ihr werdet´s nicht erjagen .."
Ich wollte eine Erklärung zur Hypothese "Reiterhand als Fixpunkt hilft Pferd Gleichgewicht zu halten", sehe jetzt nicht, was das mit Fühlen zu tun hat. Mal abgesehen davon können Gefühle täuschen, wie viele Reiter fühlen, dass sie gerade auf dem Pferd sitzen, und sitzen doch in Wirklichkeit schief.
@Paula: Herder ist ein schönes Beispiel. Sich Zeit lassen mit dem Pferd, daran fehlt es heute häufig.
horsmän hat geschrieben:@Gawan
der Reiter will ja das GW im Sinne der Ziele der Reitkunst beeinflussen, also eben nicht so belassen, wie das Pferd es zunächst vom Instinkt seiner Natur selbst herstellt/ausgleicht. Hierzu stellen die Zügelhilfen einen Teil der Möglichkeiten dar, mit denen der Reiter sein Anliegen vermitteln will.
Natürlich braucht kein Pferd die Reiterhand um (irgend) ein GW zu behalten, damit es nicht stolpert o.ä. hier ist sogar eher das Gegenteil der Fall.
Im Sinne der Reitkunst aber, wo man aber ein künstliches GW herstellen will, bedarf es (auch) der Reiterhand dieses GW zu erarbeiten und zu erhalten. Aber nicht als physikalische Stütze (Gott bewahre!!) sondern mehr als ein Kommunikationsinstrument, was dann im Zusammenspiel mit den anderen Hilfen (Bein+Sitz/Rücken) dem Pferd vermittelt, was der Reiter ihm sagen will. Ausführen muss das Pferd dann selber, denn es hängt schließlich nicht an Marionettenfäden.
Mit dem Kommunikationsinstrument habe ich kein Problem. Was mich irritiert ist der Gedanke, ich könne mit der Hand dem Pferd
helfen, das Gleichgewicht zu halten. Ich kann ihm mit den "Hilfen" sagen, biege dich mal ein bisschen mehr, bleib mit der Nase wo du bist, tritt mehr unter etc., aber das sind, wie saltandpepper so schön formuliert hat, zielgerichtete
Störungen des Gleichgewichts. Viele Reiter sind sich wahrscheinlich gar nicht bewusst, wie oft sie das Pferd stören, und dass das Pferd teilweise trotz, nicht wegen ihrer "Hilfen" tut was es soll. So gesehen ist "Das Pferd nicht stören" die erste Reiterpflicht.
@C.Dingens
Da ich oben schon einige Antworten gegeben habe, mache ich es hier kurz.
Zum Gleichgewichtsystem (ich habe den Begriff mal so kreiert, weiss nicht, ob es den sonst gibt): Für mich ist das wesentliche Kriterium das Verhältnis zur Schwerkraft. Der Rucksack auf meinem Rücken ist insofern Teil meines Gleichgewichtsystems, als sowohl mein Schwerpunkt wie der Schwerpunkt des Rucksacks über meine Füsse auf dem Boden abgestützt werden, wir haben einen gemeinsamen Schwerpunkt, zudem bewegt sich der Rucksack unweigerlich mit mir mit, wenn ich mich bewege. Nehme ich statt des Rucksacks ein Kind auf den Rücken, kann das mein Gleichgewicht stören, indem es hin und her wackelt, unser gemeinsamer Schwerpunkt sich also in einer Weise verändert, die ich schwer vorhersehen kann, das ändert aber nichts daran, dass wir im Verhältnis zum Erdboden einen gemeinsamen Schwerpunkt haben.
Zwei Tänzer haben je einen eigenen Schwerpunkt, es sei den, der eine trägt den anderen.
Wanderer mit Stöcken: Der Fixpunkt befindet sich ausserhalb der Wanderer auf dem Boden, es hilft dem Wanderer nicht, das Gleichgewicht zu halten, wenn er den Stock auf den eigenen Fuss stellt.
Zu den Saumpferden: Ich glaube von Branderup (ja, von dem schlimmen Typ) habe ich mal gehört, dass Saumpferde meist schnell lernen, unter der Last eine gute Haltung anzunehmen, daher sollte der Reiter darauf achten, nicht schlechter auf dem Pferd zu sitzen als eine tote Last.
Und nochmals, das was ich immer noch nicht verstehe, ist, wie die Reiterhand als Fixpunkt dem Pferd helfen kann, das Gleichgewicht zu halten. Mit allem anderen, das Pferd muss lernen, den Reiter zu tragen, der Reiter darf das Pferd nicht stören etc. rennst du bei mir offene Türen ein.