Noch ein Versuch (à la Murmeltiertag)
@Kallisto
Um zu zeigen, dass versierte Reiter je nach Pferdetyp auf verschiedene Lösungen kamen, darunter auch "zuerst Seitengänge und Piaffe, dann erst Galopp", habe ich zwei Reitmeister (salopp "Gurus") zitiert, die auch von der FN als solche anerkannt sind, allerdings scheint sie kaum jemand zu lesen. Könnte daran liegen, dass der eine auf französisch schrieb und die von mir zitierte Übersetzung in Fraktur gedruckt wurde, und der andere die Sätze so kompliziert verschachtelte.
kallisto hat geschrieben:Der Galopp bessert sich nicht nur durch rundenweisen Galopp. Aber braucht es dazu Seitengänge? Ich finde es gibt viele Wege nach Rom ohne gleich das Pferd von hinten aufzuzäumen. Dafür sind RL und Ausbilder da, das individuell herauszufinden. Ich bin auch nur Freizeitreiter. Aber jeder Pferdebesitzer möchte sein Pferd ja in den Grundgangarten locker reiten können.
Der Galopp stellt an den Reitersitz hohe Anforderungen. Daran wird meiner Meinung nach viel zu wenig gearbeit, es ist nicht immer das untalentierte Pferd. Ist das Pferd nicht gut ausbalanciert und der Reiter klemmt, ist das ein schwieriger Kreislauf, den aber der Ausbilder lösen sollte. Der Reiter stört das Pferd, die Hilfen sind keine Hilfen, das Pferd gibt den Rücken nicht her. Auf den meisten Videos sehe ich eine störende Reiterhand, gegen die das Pferd "springen" muss. Andere nennen sowas Anlehnungsprobleme.
Man kann das Pferd an der Longe ausreichend vorbereiten und den Reiter sitzmäßig trainieren. Davon höre und sehe ich selten etwas.
Natürlich muss der Sitz trainiert werden, aber ich verstehe jetzt ehrlich gesagt nicht, was ein Galoppsalat beim Freilaufen mit einem schlechten Sitz zu tun hat. Zudem arbeite ich mein Pferd systematisch an der Longe, auch da hat es Probleme mit dem Galopp. Am leichtesten galoppiert es draussen auf einigermassen geraden Wegen.
kallisto hat geschrieben:Übrigens sehe ich Seitengänge deshalb als kritisch (und unter anderem als höhere Lektionen an), weil es sitzmäßig höhere Anforderungen stellt, gewisse Reiterhilfen aus dem FF kommen und beim Pferd ankommen müssen. Bei vielen Videos, die Seitengänge zeigen, sehe ich eher keinen positiven Effekt des inneren Hinterbeins, der Tragkraftförderung. Der innere Zügel ist bestimmend, Pferd läuft nach außen weg.
Ich hatte das Glück, nach meinen wilden Ponyhof-Jahren und einigen eher ernüchternden Stunden in einer 08/15-Reitschule an einen Reitlehrer mit gutausgebildeten Schulpferden zu geraten. Der nahm grundsätzlich mal jeden an die Longe, womit ich nie ein Problem hatte, und dort ritt ich auch mein erstes Schulterherein, nur durch eine kleine Änderung meines Fokus, die Zügel dabei in einer Hand, also nix mit innen ziehen.
kallisto hat geschrieben:Weil ich einfach davon ausgehe, dass die Reiter, die die Seitwärtsgänge ausreichend zwecksmäßig reiten können, auch nicht grundlegende Galoppprobleme haben. Der Galopp ist bei ausreichender Hilfengebung des Reiters kein Hexenwerk... Und jeder weiß, wie selbst kleine Sitzverbesserungen Wunder beim Pferd bewirken können.
In den vierzig Jahren, die ich unterdessen schon reite, bin ich doch auch einige Male galoppiert, auch auf galoppmässig eher wenig begabten Pferden, von daher glaube ich nicht, dass ich ein "grundlegendes Galoppproblem" habe. Und dass der Sitz wichtig, wichtig und nochmals wichtig ist, habe ich bei meinem alten Reitlehrer und vor allem von seinen Pferden gelernt (die wurden ziemlich stinkig, wenn man mit dem Sitz klemmte).
Ich muss allerdings sagen, wenn mir ein Reitlehrer gleich welcher Couleur mit Allgemeinplätzen im Stil "der Galopp ... ist kein Hexenwerk" käme, würde ich ihn nicht als Reitlehrer wählen.
Zur Klarstellung: Dass meine Reitlehrerin Nr. 2 aus dem BB-Bereich kommt, hat nicht damit zu tun, dass ich darauf aus wäre, mit einem seidenbandverzierten Pferdl, einen federgeschmückten Dreispitz auf dem Haupt, Courbetten im Quadrat zu hüpfen. Mein Interesse ist das Wanderreiten, und dazu brauche ich ein Reittier, dass sich angenehm und zuverlässig auch mit den Zügeln in einer Hand und ohne permanente Anlehnung reiten lässt. Was ich fürs Wanderreiten nicht brauchen kann, ist ein Pferd, das im Krebsgang einen Weg entlang schleicht, daher war ich dem BB-Bereich gegenüber eher skeptisch eingestellt. Von der Reitweise her käme für meinen Zweck natürlich auch das Westernreiten in Frage, das mich aber höchstens in der kalifornischen Variante anspricht, und was ich bei uns in der Gegend an Westernreitlehrern kennenlernte gehörte meist in die Kategorie "um an der Futurity teilzunehmen, muss ich das Pferd zweijährig anreiten".
Nun verkehren bei uns im Stall Reitlehrer aus verschiedenen Reitweisen, meine Reitlehrerin Nr. 1 könnte ich als "mit allen Wassern gewaschen" bezeichnen: Erfahrung in diversen Reitstilen und mit verschiedenen Pferdetypen, zudem didaktisch sehr geschickt. Sie kommt aber nur drei Mal im Jahr für Wochenendkurse in den Stall, ich brauchte also noch jemand, der mich regelmässig begleitet und mir hilft, einerseits die Diskrepanz zwischen dem, was ich beim Reiten fühle, und dem was objektiv abgeht, aufzulösen, und mir andererseits Übungsmaterial gibt, mit dem ich mich und mein Pferdl beschäftigen kann. Ich habe verschiedenen Reitlehrern beim Unterricht zugesehen, nahm auch mal bei einem FN-Lehrer eine Stunde auf einem seiner Pferde (eines der steifsten Pferde, das ich je geritten habe), und wählte schliesslich die BB-Reitlehrerin, weil mir die Art, wie sie andere Einsteller unterrichtete, gefiel.
Entgegen dem Klischee besteht der Unterricht keineswegs nur aus Seitengängen, die kamen erst mit der Zeit dazu, sondern aus dem Reiten von Zirkeln, Volten, Schlangenlinien, Wechseln durch die Bahn, Wechseln durch den Zirkel, aus der Ecke kehrt, also lauter furchtbar exotischen Übungen. "Fleissiger werden" ist das Hauptthema bei meinem Energiesparmodell, Versammlung wurde erst nach mehr als einem Jahr eher zufällig angesprochen. Dem Wanderreiten hat der Unterricht nicht geschadet, wir sind draussen sogar schneller unterwegs als früher (gemessen mit GPS).
Noch eine Anmerkung zu den Videos, die hier immer wieder angesprochen werden: Auf Youtube etc. gibt es keine Qualitätskontrolle, jeder Idiot kann dort etwas veröffentlichen, daher finden wir dort viele eher peinliche Videos. Wer besser Bescheid weiss, was z.B. eine gute Piaffe ist, hat möglicherweise mehr Hemmungen, seine ersten jämmerlichen Versuche in diese Richtung der Weltöffentlichkeit zu präsentieren, oder wenn er es trotzdem tut, wird er es als "unser erster Versuch mit Halben Tritten" oder "work in progress" oder ähnlich bezeichnen (ich lasse mich jetzt besser nicht über die Piaffen von Spitzenreitern aus). Eine naive Selbstüberschätzung erlebe ich hier im Stall bei manchen Reitbeteiligungen: Da hatte z.B. ein Mädel in der Reitschule ein paar Prüfungen hinter sich gebracht, und murkste mit dem Pferd, das sie sich als Reitbeteiligung ergattert hatte, in der Halle rum. Als ich fragte, was sie da macht, erklärte sie mir im Brustton der Überzeugung, sie müsse mit dem Pferd Galopp üben, die Besitzerin (eine Reitlehrerin!) würde das nicht richtig machen. Später erfuhr ich dann, dass sie in der Halle gar nicht hätte galoppieren dürfen, da das alte Pferd Probleme mit den Gelenken hatte ...
Zum Thema Selbstüberschätzung hier noch ein Beitrag:
http://scienceblogs.de/naklar/2012/04/1 ... gereffekt/ (Der zugehörige wissenschaftliche Artikel findet sich hier:
http://citeseerx.ist.psu.edu/viewdoc/do ... 1&type=pdf )
Eine Formulierung aus den Kommentaren dazu:
Die “echten” Experten mit denen ich zu tun habe, reden mehr über das, was sie noch nicht wissen, aber zu erfahren hoffen, als über das, was sie alles angeblich wissen und kennen ihre Lücken und ihre Fähigkeiten sehr genau.