Das Thema Anlehnung ist ein sehr schwieriges und man neigt dazu, sich von dem einen oder anderen mißlungenen Beispiel aus der Praxis im negaviven Sinne oder von einigen Bildern der großen Reitmeister im positiven Sinne in die Irre führen zu lassen.
Der Grundsatz bei der Anlehnung lautet sicher: "so viel wie nötig und so wenig wie möglich". Aber das hilft natürlich nur wenig weiter. Die Hand soll einen möglichst leichten Kontakt zum Pferdemaul halten. Ob dieser Kontakt sich in Kilogramm oder Gramm oder nur in Gedanken bemessen läßt, ist von sehr vielen Faktoren abhängig.
Was bei den großen Meistern z.B. Nuno Oliveira gerne vergessen wird, ist dass er das Aufgeben der Anlehnung als "Freiheit auf Ehrenwort" versteht. Diese Freiheit verdient sich das Pferd (bzw. Pferd und Reiter) im Laufe der Ausbidlung. Wehe dem Pferd, das es wagt, diese Freiheit auszunutzen. Dominique Barbier (ein Oliviera Schüler) beschreibt es etwas genauer. Er sagt:
Das junge Pferd benötigt zunächst etwas mehr Anlehnung. Je besser und je feiner die Kommunikation wird, desto mehr kann man die Anlehnung reduzieren. Ein wahrer Meister kann die Anlehnung sogar für kurze Momente völlig aufgeben.
Aber er sagt auch:
Wenn das Pferd nicht am Zügel steht, ist alles verloren. Er verlangt, dass man stets das Gefühl haben soll, auf einem Ferrari zu sitzen, der explodiert, sobald man es von ihm verlangt. Ohne Schwung und das
immer spürbare Vorwärts, wird man in der Dressur nichts erreichen.
Wer nun in der Lage ist, dies alles ohne Anlehnung umzusetzen, hat meine größte Bewunderung.
Meine Erfahrung ist allerdings, dass die Anlehnung nur in dem Maße reduziert werden kann, wie das Pferd bedinungslos vorwärts geht, wobei sich das Vorwärts nicht als ein Eilen, sondern als ein vermehrtes Untertreten bemerkbar macht, was schließlich die Versammlung kennzeichnet.
Ein Pferd, welches vollkommen und bedingungslos den Signalen des Reiters folgt und das bereits sein Gleichgewicht unter dem Reiter sowie den geforderten Takt und Schwung gefunden hat, wird nur sehr wenig Anlehnung benötigen.
Ohne Anlehnung wird man dieses Ziel jedoch nie erreichen.
Auch ein Oliveira hat sich nicht auf ein junges Pferd gesetzt und es nur mit Gewichtshilfen ausgebildet. Allerdings sollte die gesamte Ausbildung stets daraufhin ausgerichtet sein, die Hilfengebung d.h. die Kommunikationsmittel zu verfeinern und damit auch die Anlehnung soweit zu reduzieren, wie es möglich ist, ohne dass das Pferd Schwung und Takt verliert. Es ist völliger Unsinn eine grundsätzliche Regel aufzustellen, die das Maß der Anlehnung für alle Ausbildungssituationen festlegt.
Wer seinem Pferd schon in der Grundausbildung die Anlehnung verweigert, hat das Prinzip der klassischen Ausbildung nicht im Ansatz verstanden. Das Pferd muss unter dem Reiter ein neues Gleichgewicht finden. Dabei soll Schwung und Takt erhalten bleiben. Dazu benötigt es insbesondere eine richtig dosierte Anlehnung. Das ist auch der Grund warum die Richter diesem Aspekt soviel Aufmerksamkeit schenken.
Wenn man durchhängende Zügel sieht (gerade bei blanken Kandaren) muss man sehr kritisch prüfen, ob dies wirklich Ausdruck von Leichtheit ist, oder das Pferd vielmehr Angst vor der Hand hat, sich im Rücken festhält oder jeden Schwung und Takt verloren hat.
Richter haben es nur selten mit den großen Meistern zu tun. Sie richten den normalen Dressurreiter, der seinem Pferd in aller Regel sehr wohl etwas Anlehnung bieten muss, damit es im klassischen Sinne korrekt unter dem Reiter geht. Das Fehlen von Anlehnung ist fast immer ein Zeichen, dass der Reiter sein Pferd nicht an den Hilfen hat. In den Fällen, wo der durchhängende Zügel ein Zeichen wahrer Reikunst ist, wird es sicher auch nicht getadelt. Solche Fälle wird ein Richter aber in seinem Leben nur äußerst selten zu sehen bekommen.
Auch im großen Dressursport sieht man immer wieder ein kurzes Aufgeben der Anlehnung z.B. in der Piaffe oder der Pirouette, aber bevor man dorthin gelangt, ist es ein sehr weiter Weg.
Ich glaube es ist ein völlig falscher Ansatz, wenn jeder von uns glaubt, er/sie sei ein großer Reitmeister und könne durch Gedankenübertragung ein junges Pferd ausbilden. In der Reiterei wird man im Gegenteil immer wieder feststellen, wie unzureichend die eigenen Fähigkeiten sind. Wir sollten etwas realistisch in der Einschätzung unserer eigenen Fähigkeiten sein und das Ergebnis unserer Bemühungen immer kritisch beobachten.
Die Ausbildung eines Dressurpferdes ist zunächst einmal 99% Grundlagenarbeit.
Das Fehlen von Anlehnung kann sehr viele Ursachen haben, der Meisterreiter in Vollendung ist wohl in höchstens 1 von 100.000 Fällen der Grund. In allen anderen Fällen ist es schlicht schlechte Reiterei oder falsches Verständnis von klassischer Dressur.
Trotz alledem: Wer sein Pferd schwungvoll und taktrein vorwärts reitet, sollte stets bemüht sein, die Anlehnung dabei soweit wie möglich zu reduzieren und vielleicht auch einmal phasenweise aufzugeben. Das Aufgeben der Anlehnung ist nichts anderes, als die Überprüfung, ob die Anlehnung zuvor korrekt war und das Pferd sich unter dem Reiter im Gleichgewicht befindet.
